Stefano Migliorini, der Geschäftsführer von THOK E-Bikes, hat seine ganz persönliche Sichtweise zur derzeitigen Lage der Fahrradindustrie mit uns geteilt. Was sind die Folgen dieser Marktsituation, bei der die Nachfrage das Angebot weit übersteigt? Und vor allem, wie sieht die Zukunft unter diesen historisch einmaligen Umständen aus?
Wie war das Jahr 2020 für THOK?
Es war, wie man sich denken kann, ein sehr anstrengendes Jahr. Für THOK war es ein Jahr des Wachstums, in dem wir die Früchte unserer bis heute geleisteten Arbeit ernten konnten, und die Tendenz bleibt steigend. Dazu ist zu sagen, dass wir ein junges Unternehmen sind, das erst seit etwas mehr als drei Jahren besteht.
Das Jahr 2020 konnten wir erneut mit einem Wachstum abschließen. Wir haben zwei neue THOK-Bikes und zwei neue DUCATI-Bikes auf den Markt gebracht, neue Märkte wie den deutschen Markt erschlossen und die firmeninterne Struktur unseres Unternehmens aufgebaut. Insbesondere haben wir unser Omnikanal-Vertriebssystem weiter optimiert. Natürlich hat dabei der unbestritten hohe Anstieg der Nachfrage nach unseren Produkten eine Rolle gespielt, der jedoch nur zum Teil auf die Pandemie zurückzuführen ist. Denn auch unser Brand ist organisch gewachsen, unsere Stellung auf dem Markt als glaubwürdiger Hersteller wurde gefestigt und das Image sowohl der Marke THOK als auch von DUCATI powered by THOK gestärkt, was sich natürlich alles in den Verkaufszahlen niedergeschlagen hat.
Wie hat sich die Pandemie auf das Unternehmen ausgewirkt?
Die COVID-Pandemie hat alles komplizierter gemacht, vor allem in der Produktion, da die Verfügbarkeit der Komponenten nicht mehr so selbstverständlich wie bisher ist. Gleichzeitig hat sie für alle Unternehmen der Branche großartige Gelegenheiten geschaffen. Wir haben nach alternativen Zulieferquellen gesucht, aber natürlich haben alle mit Liefer- und Logistikschwierigkeiten zu kämpfen, nicht nur unsere bisherigen Zulieferer.
Die größte Schwierigkeit hat darin bestanden, der großen Nachfrage nach dem Lockdown nachzukommen und an unserer Strategie des Omnikanal-Vertriebs festzuhalten. Wir bieten unseren Kunden die Möglichkeit, das E-Bike dort zu kaufen, wo sie wollen, das heißt online oder bei einem THOK Point, und es auf die Weise zu bezahlen, die für sie am bequemsten ist, also per Kreditkarte, Überweisung, bei einem THOK Point bei der Lieferung oder durch Finanzierung, sowie sich das Bike dorthin liefern zu lassen, wo es für sie am praktischsten ist.
Eine positive Auswirkung ist dagegen, dass die Leute die Bewegung unter freiem Himmel wieder entdeckt haben. Noch nie habe ich so viele Menschen draußen auf dem Fahrrad, beim Wandern, beim Säubern der Wege oder beim Bauen neuer Trails gesehen. Oft wird diese Tätigkeit vergessen, die jedoch für uns Biker, und nicht nur für uns, fundamental ist. Dieser Aspekt der Pandemie macht uns sehr zufrieden.
Vor wenigen Wochen habt ihr das TK01 R präsentiert. Wie habt ihr es geschafft, in diesen Zeiten ein neues Bike herauszubringen?
Das war eine ziemliche Herausforderung. Die Idee zum TK01 R ist zusammen mit dem TK01 entstanden. Wie bei der MIG-Produktlinie haben wir ein Einstiegsmodell und eine R-Version als High-End-Modell geplant, wobei sich die zwei Modelle nur bei den verbauten Komponenten und im Outfit unterscheiden. Durch das Covid 19-Virus ist alles etwas komplizierter geworden: Wegen der Lieferzeiten unserer Zulieferer konnten wir die zwei Modelle nicht gleichzeitig auf den Markt bringen. THOK konstruiert und entwickelt seine Modelle in Italien, aber die Herstellung erfolgt wie bei allen im Fernen Osten. Für mich war es schwer, nicht wie sonst nach Taiwan reisen und die Produktion persönlich verfolgen zu können. Das hat uns nicht nur unsere Sicherheit, sondern auch so einigen Schlaf geraubt.
Zum Glück können wir uns auf unser Team vor Ort und seinen Leiter und unseren Vertrauensmann Scott Lin verlassen, der wie immer standhaft und entschlossen gehandelt hat.
Außerdem mussten wir mit den höheren Kosten für Komponenten und Transport fertig werden. Als Ausgleich für die höheren Preise haben wir unseren Kunden zusätzliche Dienste angeboten: So wird das TK01 R mit dem THOKcare-Paket und einem Rahmen geliefert, der mit den persönlichen Einstellungen der Federung und des Reifendrucks personalisiert ist. Wir haben dafür alle neuen THOKer einzeln kontaktiert, die diese Geste sehr begrüßt haben. Jetzt, nachdem wir es geschafft haben, kann ich sagen, dass uns dieses Abenteuer ziemlich herausgefordert hat: In so manchen Momenten gab es überall nur Hindernisse. Aber wir haben uns nicht geschlagen gegeben, unseren Plan durchgezogen und geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Wie schon Vittorio Alfieri sagte: „Wolle es, wolle es immer und wolle es mit all deiner Kraft“. Und hier steht es nun, das neue THOK Modell mit seinen zahlreichen Accessoires und lieferbereit. Das war unser Weg, uns nicht vom Virus unterkriegen zu lassen.
Das TK01 R wurde lieferbereit verkauft, was heute den meisten als unmöglich erscheint. Was ist euer Geheimnis?
Wir hatten gewartet, bis wir die fertigen TK01 R im Haus hatten, bevor wir es auf dem Markt angeboten haben. Wir wollten auf Nummer sicher gehen, dass sich dem Liefertermin nichts in den Weg stellt. Sein Traumbike zu erhalten, bedeutete in den vergangenen Monaten für viele, lange Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Da ist frustrierend, auch wenn die Kunden sich immer mehr daran gewöhnen. Wir wollten, dass alles so bleibt, wie es war, und der Kunde für den Kauf eines THOKs auf unsere Webseite oder in einen THOK Point gehen kann, dort sein Modell und die passende Größe aussucht und dann ein paar Tage später sein E-Bike zuhause erhält. Wir wollten Träume wahrmachen. Und diese Idee kam gut bei den Kunden an und wurde sehr geschätzt. Bei den nächsten Produktpräsentationen, die wir für 2021 vorgesehen haben, werden wir das genauso handhaben – denn ja, wir werden weitere Produkte herausbringen…
Wie sind die Lieferzeiten, bei den anderen Modelle der Produktreihe?
Das TK01 R war gerade mal für knapp eine Woche sofort lieferbereit, obwohl wir eine beachtliche Stückzahl davon auf Lager hatten. Die nächsten Bikes, deren Anlieferung Ende April erfolgen wird, wurden alle innerhalb von 10 Tagen vorbestellt und heute ist auch bereits ein Großteil der Bikes der Juni- und Juli-Produktion vergeben.
Im Moment gehen alle THOKs weg wie warme Semmel und die Wartezeiten für Neubestellungen bei unseren Lieferanten liegen bei 20 bis 24 Monaten. Wenn die lieferfertigen Bikes verkauft sind und die Kunden Modelle der nächsten Lieferungen bestellen wollen, werden die Lieferfristen natürlich viel länger sein.
Wir versuchen, die Nachbestellungen der Einzelteile so früh wie möglich zu programmieren und die Stückzahlen zu erhöhen, aber noch vor einigen Monaten hätte niemand gedacht, dass die Nachfrage in solche Höhen schnellen würde! In der jetzigen weltweiten Situation ist es nicht möglich, bei einem bereits laufenden Auftrag die Mengen zu erhöhen oder absolute Sicherheiten zu erhalten. Auch wenn alles glatt zu laufen scheint, passiert plötzlich das Unvorstellbare – man denke nur an den Vorfall im Suezkanal.
Wir schauen mit Optimismus und Leidenschaft nach vorne, versuchen die Vorkommnisse zu interpretieren und ihrer Entwicklung zuvorzukommen, damit sie uns heute nicht überwältigt und wir für morgen gewappnet sind.
Wie sieht eure Vorausschau für 2021 und 2022 aus?
Mit der Covid-Pandemie haben die Leute die Natur und die Outdoor-Aktivitäten wieder entdeckt. Mit den E-Bikes können sie sich leicht und mit Spaß draußen fortbewegen. Wir von THOK sehen bis 2025 ein Wachstum von rund 25% pro Jahr voraus, dann werden sich die Zahlen wohl stabilisieren. Ganz allgemein denke ich, dass 2021 und 2022 mit einer starken Nachfrage zu rechnen ist. Wir werden neue Modelle herausbringen und unsere Vertriebspolitik weiter optimieren. Ich gehe davon aus, dass die Bike-Branche allgemein um 25 bis 30% gewachsen sein wird, bevor sich die Marktlage stabilisieren wird.
Leider wird das Coronavirus unserer Branche auch Nachteile bringen und ich befürchte, dass das Schlimmste noch vor uns liegt. Es könnten Komplikationen entstehen, die wir heute noch nicht erahnen können. Ich denke zum Beispiel an die Erschöpfung der Rohmaterialien wie Aluminium und andere Metalle, aus denen die Fahrradrahmen gebaut sind. Das Virus könnte weltweit noch größere Schwierigkeiten im Logistikbereich verursachen. Wahrscheinlich wird uns hier der Technologiebereich mit der Entwicklung neuer Materialien und Konstruktionsverfahren zur Hilfe kommen. Ein Beispiel dafür ist das Cover des Iphone 12, das nicht mehr aus Aluminium, sondern aus einem Kunststoffmaterial gefertigt wurde, und somit das Problem mangelnder Rohmaterialien umgangen wird. Ich kann mir vorstellen, dass es in der Radbranche zu ähnlichen Neuerungen kommen wird.
Stehen bei euch Investitionen oder eine Stärkung der Produktionskapazitäten auf dem Programm?
Wir arbeiten auf mehreren Ebenen, um die schwierige Lage bei der Materialversorgung und der Verfügbarkeit der Komponenten zu meistern. Die einfachste Lösung wäre, alles im eigenen Hause herzustellen, aber bei Komponenten wie dem Motor wird dies natürlich sehr schwierig. Wir arbeiten an unserem Zuliefernetz, um einen „A-B-C“-Plan auf die Beine zu stellen, bei dem die Bikes je nach Herstellungszeitraum unterschiedliche Komponenten haben werden. Hierbei kommt uns unser Onlinevertrieb zugute, denn, im Gegensatz zu anderen Anbietern, die nach Katalog verkaufen, können wir problemlos und jederzeit die Spezifikationen ändern und sie unseren Endkunden direkt mitteilen. Zudem sind wir überzeugte „No-Model Year“-Verfechter, agieren seit den Anfängen von THOK entsprechend und werden dies auch weiterhin so halten. Wir arbeiten auch an alternative Materialien für Rahmen und Komponenten, um die jetzigen Komplikationen zu beseitigen, da manche Materialien leichter zu finden sind als andere. Auf jeden Fall denke ich, dass sich der Schwerpunkt der Zulieferer bald nach Europa verlagern wird.
Mehr unter www.thokbikes.com.