Dem Mythos der Nürburgring-Nordschleife, der legendären „Grünen Hölle“, kann man sich kaum entziehen. Nicht einmal dann, wenn man dem Auto weitgehend abgeschworen hat und sich die PS-Begeisterung der Jugend nicht länger auf Pferdestärken bezieht, sondern auf pedalgetriebenen Schub.
Heiko Truppel, Redakteur beim pressedienst-fahrrad, war daher sofort bereit, beim 24-Stunden-Rennen „Rad am Ring“ in der E-Bike-Klasse für das „Felt Factory Team“ an den Start zu gehen – ohne auch nur ansatzweise zu ahnen, was ihn erwarten würde.
Die Grüne Hölle macht ihrem Namen keine Ehre. Sie ist blauschwarz und kalt. Sturzregen und Sturmböen peitschen die Wechselstation im Fahrerlager. Der für kurz nach 13 Uhr angesetzte Start zum 24-Stunden-Radrennen am Nürburgring wird zunächst um drei Stunden verschoben, dann nähert sich eine weitere, noch heftigere Unwetterfront.
Jetzt soll es um 19:45 Uhr losgehen, mit den E-Bikes als erster Startergruppe, gefolgt nach jeweils einer weiteren Viertelstunde vom großen Feld der klassischen Rennräder und den Teilnehmern des Mountainbike-Rennens. Aber es sieht nicht danach aus, als würde hier überhaupt noch ein Wettbewerb stattfinden, das Jedermannrennen wurde aus Sicherheitsgründen bereits komplett gestrichen. Ich will eigentlich nur weg. Aber da hängt dieses total verrückte Rad im Montageständer und ich will es unbedingt fahren!
Keine Rennmaschine von der Stange
„Wir bauen ein Hot Rod“, hat Heiko Böhle, Produktmanager bei Felt, am Telefon angekündigt. Basis für das ungewöhnliche Rennrad ist der „Outfitter“, ein E-Fatbike mit Camouflage-Lackierung, serienmäßig schon ein Hingucker. Am Vorabend wurde dem Boliden ein Rennlenker verpasst, die hintere Profilwalze durch einen wuchtigen, eigentlich für Felts Cruiser-Modelle entwickelten Semislick-Reifen ersetzt, vorne dagegen hängt ein aerodynamisches Carbonlaufrad von Zipp mit gerade mal 23 Millimetern Bereifung in der Gabel, wie man es etwa bei Zeitfahrrennrädern findet.
Auf den wenigen Metern zur technischen Abnahme ernten wir ungläubiges Staunen, Dutzende Smartphones und Kameras werden gezückt. Doch wie es sich für eine Diva gehört, hat das Rad seine Tücken. Der kleinste Gang fehlt, weil die Rennradschaltung nicht zum Mountainbike-Ritzelpaket passt, und das vordere Laufrad ist mit seiner reduzierten Speichenzahl nicht für eine Scheibenbremse ausgelegt. „Bremst vorne am besten gar nicht“, feixt Teamchef Marc Schmiedtke. Zu allem Überfluss sind die Beläge auch noch nicht eingebremst, da das Rad erst vor Ort fertig gestellt werden konnte.
Mann oder Maus in der Fuchsröhre?
Manuel Szech, als erster Fahrer das Versuchskaninchen, beherzigt Marcs Rat entweder zu sehr oder verdrängt die mitschwingende Bedeutung, dass man schlimmstenfalls gar nicht mehr bremsen kann. Vielleicht beflügeln ihn auch die wie aus dem Nichts aufgetauchten Menschenmassen, denn als das um die Verzögerung von sieben Stunden gekürzte Rennen endlich losgeht, wimmelt es im Start- und Zielbereich wie in einem Ameisenhaufen vor einer Lycra-Spinnerei.
Allein das Teilnehmerfeld besteht in den verschiedenen Kategorien aus mehr als 5.000 Fahrern, dazu kommen rund 500 Helfer sowie unzählige Freunde, Fans und Interessierte … Jedenfalls bringt Manuel aus der ersten Runde eine Spitzengeschwindigkeit von über 90 km/h mit zurück. In der langsam hereinbrechenden Nacht wird er diesen Wert sogar noch auf beeindruckende 96,2 km/h steigern.
Mich selbst verlässt weit vorher der Mut. Sebastian Möller, unser zweiter Fahrer, hatte mich noch einmal gewarnt: „Greif unten und halt den Lenker gut fest!“ Schon bei den ersten Abfahrten an Hatzenbach und Schwedenkreuz packt der immer noch starke, böige Wind die Hochprofilfelge im Vorderrad.
Das bullige Hinterrad dagegen liegt satt auf der Straße, trotzdem traue ich mich nicht so recht, mich in die Kurven zu legen. In der Fuchsröhre ist mein psychisches Limit erreicht, bei 70 Stundenkilometern mache ich endgültig zu – die Bremsen funktionieren jedenfalls.
Eine Lektion in Sachen Respekt
Viel größer ist allerdings die Angst vor Anfeindungen von Analogfahrern. Die Rennradszene ist schließlich durch ein gewisses Traditionsbewusstsein geprägt – und wir fahren ein „Motor-Rad“. Doch die Befürchtungen sind weitgehend unbegründet. Es ist wie auf einem Radweg in der Stadt: Fahrer in teils sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten teilen sich eine rechts und links begrenzte Strecke. Bergab bin ich die Oma, bergauf die anderen. Rücksicht ist daher angesagt.
Auf dem langen Anstieg Richtung Hohe Acht ziehe ich mit möglichst großem Abstand an den Rennradlern vorbei, denn ich habe enormen Respekt vor ihrer Leistung und sehe selbst die durchtrainierten Fahrer kämpfen. Ich dagegen muss nur auf der kurzen, den E-Bikes vorbehaltenen Steilstrecke mit bis zu 27 Prozent Steigung aus dem Sattel. Dieses Stück hat es allerdings in sich.
In den Abfahrten überholen die Rennräder dann fast immer mit viel Platzreserve, obwohl es mich teilweise weit aus der Kurve trägt. Aber eben leider nur fast immer. Drei, vier Mal werde ich ohne Not und offenbar mit Absicht geschnitten. Manuel wird sogar beschimpft: „Ich hasse Dich!“ Trotzdem sind das in dem riesigen Fahrerfeld Einzelfälle.
Die rein auf Muskelkraft setzenden Sportler wissen nicht, dass auch wir bei Geschwindigkeiten über 25 km/h ein doppelt so schweres Rad komplett ohne Motorkraft bewegen. Den größten Teil der Strecke zeigt die Unterstützungsanzeige keinen Balken an, der Akku, den wir jede Runde tauschen, würde wohl locker drei Runden lang halten. Es bleibt zu wünschen, dass der gemeinsame Sportsgeist hochgehalten wird, wenn sich die Rennradfahrer die Strecke mit mehr als einem guten Dutzend E-Bike-Teams wie in diesem Jahr teilen müssen.
Fairness basiert auf Vertrauen
In der Nacht gibt es innerhalb der E-Bike-Klasse Verstimmungen. Ein französisches Team, deren Fahrer wirken, als hätte ein Gentechniker das Erbgut sämtlicher Paris-Roubaix-Sieger seit 1896 kombiniert, hat sich von Beginn an souverän an die Spitze gesetzt. Plötzlich holt eine Mannschaft auf, die ein System fährt, das prinzipiell höhere Geschwindigkeiten unterstützt. Das lasse sich technisch nicht verhindern, erklärt mir ein Mitarbeiter von Bosch, dem Initiator und Organisator des E-Bike-Rennens auf dem Ring, der selbst mit drei Teams vertreten ist.
Es scheint wie im klassischen Radsport: Dort, wo man auf Fairness nur vertrauen kann, macht sich zwangsläufig Misstrauen breit. Doch selbst bei den Franzosen verfliegt der Unmut schließlich. Ein möglicher Betrug lässt sich nicht nachweisen, und der Morgen verspricht einen Traumsonntag, der ungeachtet der Platzierung alle für ihre Mühen belohnen wird. Als ich meine Runde übernehme, ist der Himmel klar, und ich genieße den sich ankündigenden Sonnenaufgang in der wunderschönen Eifellandschaft. Die eiskalten Temperaturen der Nacht nähern sich im Laufe des Vormittags wieder zweistelligen Werten, und mit der Wärme steigt die ohnehin schon gute Laune noch weiter.
Erlebnis vor Ergebnis
Eigentlich hatte ich meine letzte Runde absolviert und versucht, etwas Schlaf nachzuholen. Da weckt mich Marc. Meine Teamkollegen waren so schnell, dass im vorgegebenen Zeitrahmen noch eine Runde gefahren werden kann und wenn ich es vor 12:45 Uhr ins Ziel schaffe, wäre sogar noch eine weitere Runde drin. Es geht um nichts mehr. Die Teams, die wir schlagen konnten, haben wir im Griff, der Abstand zur Mannschaft von Riese & Müller vor uns ist dagegen zu groß, um ihn noch aufzuholen.
Wir sind alle mit demselben Rad gefahren und haben durch den ständigen Austausch von Akku, Licht und Sattelstütze sicher eine ganze Runde verloren. Aber ich sehe, dass ich noch eine Runde herausholen könnte und gebe alles. Der Motor hat ab der Hedwigshöhe kaum noch etwas zu tun, denn ich trete hart in die Pedale. Unerbittlich läuft die Uhr.
Als es vom Hohenrain auf die Zielgerade geht, schlängle ich mich in hohem Tempo durch Fahrermassen, die gemütlich Richtung Ziel rollen. Aber der Streckenwart schwenkt die Fahne, es ist 12:46 Uhr. Direkt nach Überqueren der Ziellinie bremse ich, fahre an den Rand, klicke aus den Pedalen aus – und sämtliches Blut sackt aus meinem Kopf. Es dauert ein paar Minuten, bis es mir wieder einigermaßen gut geht.
Bei meiner Rückkehr an die Wechselstation ist von Enttäuschung jedoch keine Spur: Meine Mitstreiter strahlen mit der hoch am Himmel stehenden Sonne um die Wette und klatschen ab. Und auch ich bin glücklich, ich habe auf einem der berühmtesten und schönsten Rennkurse der Welt das erste Radrennen meines Lebens bestritten. Wir haben uns gut geschlagen und das wichtigste und einzige ausdrücklich erklärte Missionsziel erfüllt: zusammen eine Menge Spaß zu haben, mit dem Erlebnis vor dem Ergebnis. Beim nächsten Mal dürfen es allerdings gerne echte 24 Stunden sein.