Die europäische Fahrradindustrie durchlebt aktuell ihre schwerste Krise seit Jahren. Nach dem Boom während der Corona-Jahre 2021 und 2022 kämpfen die Hersteller nun mit massiven Überkapazitäten, hohen Lagerbeständen und Liquiditätsproblemen. Dies geht aus einer aktuellen Studie des Beratungsunternehmens Roland Berger in Zusammenarbeit mit dem pressedienst-fahrrad (pd-f) hervor.
Besonders dramatisch zeigt sich die Situation im konventionellen Fahrradbereich: Der Absatz von „Bio-Bikes“ – also Fahrrädern ohne Motor – ist massiv eingebrochen. Bereits 2023 verzeichnete die Branche einen Rückgang von 13 Prozent, und auch in den ersten vier Monaten 2024 setzte sich dieser Trend mit einem weiteren Minus von zehn Prozent fort. Selbst die wichtige Leitmesse Eurobike im Juli 2024 brachte nicht die erhoffte Trendwende.
Ein Lichtblick bleibt allerdings das E-Bike-Segment. Während der Gesamtmarkt schwächelt, erweisen sich elektrisch unterstützte Fahrräder als vergleichsweise krisenfest. In Deutschland, dem größten E-Bike-Markt Europas, wurden 2023 bereits mehr E-Bikes (2,1 Millionen) als konventionelle Fahrräder (1,9 Millionen) verkauft. Steuerliche Vorteile und attraktive Leasing-Modelle, besonders im B2B-Bereich, stabilisieren die Nachfrage.
Die Studie, für die 34 Geschäftsführer von Fahrradherstellern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz befragt wurden, zeichnet ein ernüchterndes Bild der aktuellen Situation: Über die Hälfte der Hersteller sitzt auf Lagerbeständen, die für mehr als sechs Monate reichen – bei einigen sogar für mehr als neun Monate. Diese Überkapazitäten zwingen zu hohen Rabatten, was die Margen zusätzlich belastet.
Die Experten von Roland Berger erwarten eine längere Durststrecke. Eine nachhaltige Markterholung wird erst mit der Saison 2026 prognostiziert. Bis dahin stehen die Hersteller vor großen Herausforderungen: Sie müssen ihre Kosten senken, Lagerbestände abbauen und ihre Liquidität sichern. Erschwerend kommt hinzu, dass Banken der Branche zunehmend kritisch gegenüberstehen und die Finanzierung schwieriger wird.
Für die Zukunft sehen die Studienautoren fünf zentrale Erfolgsfaktoren: Eine Optimierung der oft zu breiten Sortimente, eine überlegtere Neuheitenpolitik, die Verringerung von Abhängigkeiten von einzelnen Zulieferern, die Stärkung der eigenen Marke sowie eine grundsätzliche strategische Neuausrichtung. Besonders interessant: Viele Hersteller planen, ihre Wertschöpfungskette zu erweitern – sowohl durch eigene Komponententwicklung als auch durch direkteren Zugang zum Endkunden (D2C).
Die Studie zeigt auch, dass neue Player in den Markt drängen. Besonders Automobil- und Kraftradhersteller entdecken das E-Bike-Segment für sich. Diese verfügen oft über deutlich größere finanzielle Ressourcen als traditionelle Fahrradhersteller. So hat beispielsweise Porsche den Motorenhersteller Fazua übernommen, und der indische Motorrollerhersteller TVS Motor kauft gezielt europäische E-Bike-Marken auf.
Trotz der aktuellen Krise bleiben die langfristigen Aussichten positiv. Der Megatrend zur CO₂-freien Mobilität in Städten ist ungebrochen, und die politischen Rahmenbedingungen – wie etwa die EU-Resolution zur Verdopplung der Fahrradkilometer bis 2030 – unterstützen die Entwicklung. Allerdings wird sich der Markt anders entwickeln als in der Vergangenheit: Statt durch steigende Stückzahlen wird das Wachstum hauptsächlich durch höhere Durchschnittspreise und den weiter zunehmenden E-Bike-Anteil getrieben werden.
Die aktuelle Marktsituation könnte somit auch als Chance für eine notwendige Konsolidierung und Professionalisierung der Branche gesehen werden. Allerdings werden vermutlich nicht alle Hersteller diese Transformation überstehen – weitere Insolvenzen sind laut Studie nicht ausgeschlossen.
Hier geht es zur kompletten Studie.