In den Straßen deutscher Städte herrschen vertraute Zustände: Staus, überquellende Parkplätze, Abgase, die in die Lungen der Passanten steigen. Doch direkt unter diesen Problemen liegt eine Lösung, die greifbar, sauber und effizient ist: das Pedelec. Mehr als 16 Millionen Elektrofahrräder sind inzwischen auf Deutschlands Straßen unterwegs, sie bringen Menschen zur Arbeit, transportieren Kinder und Einkäufe, schonen Klima und Nerven. Und doch droht diese Erfolgsgeschichte, an den eigenen Rahmenbedingungen zu scheitern – nicht an der Technik, sondern an starren Regeln und den Interessen einer Industrie, die den Status quo bewahren will.
Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) hat jüngst seine Position zur sogenannten EPAC-Kategorie (Electrically Power Assisted Cycles) nochmals bekräftigt. Burkhard Stork, Geschäftsführer des Verbands, spricht von Verantwortung und Sicherheit. Das elektrisch unterstützte Fahrrad sei Teil der „aktiven Mobilität“: Wer tritt, bewegt sich, wer aufhört, rollt aus.
Die Nutzungsfreiheit, also kein Versicherungskennzeichen, keine Helmpflicht, keine Zulassungspflicht, sei maßgeblich für den Erfolg des Pedelecs. Der Verband verstehe es daher als seine Aufgabe, diese Freiheit zu sichern, während technische Entwicklungen die geltenden Regelwerke überholen. Die Botschaft an Politik und Öffentlichkeit ist eindeutig: Der ZIV schützt das, was sich bewährt hat.
Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein Problem. Die vorgeschlagenen technischen Leitplanken – maximal 750 Watt Motorleistung, maximale Unterstützungsverhältnisse und Gewichtsgrenzen – treffen vor allem die Fahrzeuge, die die Mobilitätswende tatsächlich voranbringen könnten: schwere Lastenräder, Tandems für sehbehinderte Menschen oder adaptive Inklusionsfahrzeuge.
Über 95 Prozent der auf dem Markt erhältlichen Pedelecs fallen innerhalb der Grenzwerte, aber genau die restlichen Ausreißer wie zum Beispiel die zuletzt vorgestellten Modelle von ALSO. sind es, die Pendler, Handwerker oder Familien in ländlichen Regionen brauchen, um das Auto auch wirklich stehen zu lassen. Die Regulierung erscheint deshalb weniger als Schutz, sondern als Blockade: Wer Alltagsmobilität ernsthaft gestalten will, stößt an unsichtbare Grenzen.
Hannes Neupert, Pionier der Mikromobilität seit den 1980er-Jahren, kritisiert diese Herangehensweise scharf. Für ihn sind Wattzahlen ein veraltetes, falsches Maß. Entscheidend sei die Beschleunigung. Limitiert man die maximale Beschleunigung, können schwere Lastenräder mit 1.500 Watt sicher und kontrolliert fahren, während leichte City-Pedelecs agil bleiben, ohne Gefahren zu erzeugen.
So ließen sich Kinder, Senioren oder Menschen mit Handicap ebenso sicher transportieren wie Pendler auf ihrem Weg zur Arbeit. Neupert plädiert zudem für „Chamäleon-Fahrzeuge“, die ihren juristischen Status je nach Situation und Nutzerprofil dynamisch anpassen: auf Radwegen als Pedelec 25, auf Straßen als Pedelec 45 und auf erlaubten Sonderstrecken sogar schneller. Prototypen wie das BMW i Vision AMBY oder Pilotprojekte in der Schweiz zeigen, dass solche Lösungen technisch machbar und alltagstauglich sind.
Die Haltung des ZIV dagegen verfestigt die Dominanz etablierter Hersteller. Bosch und Shimano, die den Mittelmotor-Sektor kontrollieren, profitieren von einer Begrenzung auf 750 Watt, während Nabenmotoren oder serielle Hybridantriebe – effizienter für schwere Lastenräder und sichere Tandems – behindert werden.
Der Verband vermittelt den Eindruck, dass klare Kategorien Innovation sichern; in Wahrheit blockieren sie jene Entwicklungen, die Pedelecs zu einem echten Instrument der Verkehrswende machen könnten. Die Debatte um Wattzahlen maskiert einen Machtkampf: Marktanteile, Margen und Kontrolle über den Standard stehen im Vordergrund, während gesellschaftlicher Nutzen und ökologische Chancen in den Hintergrund geraten.
Die Folgen sind greifbar. In Städten könnten Lastenräder bis zu 50 Prozent der Lieferungen übernehmen und Emissionen massiv senken. In ländlichen Regionen könnten Pendler unabhängig vom Auto werden. Menschen mit körperlichen Einschränkungen könnten ihre Mobilität erhalten, und lokale Produktion, offene Standards und langlebige Akkus würden Jobs schaffen und Ressourcen schonen. Stattdessen entstehen teure, untermotorisierte Räder, die Nutzer frustrieren und oft wieder zurück zum Auto treiben.
Die Verkehrswende scheitert nicht an der Technik, sondern an künstlichen Grenzen, wirtschaftlichen Interessen und politischer Kurzsichtigkeit. Leistung ist nicht das Problem, das Gefahrenpotenzial ist es. Eine Regulierung, die auf Beschleunigung und Fahrdynamik statt auf Wattzahlen setzt, würde das Pedelec für alle Nutzergruppen sicher machen, ohne die Leistungsfähigkeit einzuschränken. Die Industrie blockiert, die Politik schaut zu, und die EU-Richtlinien bleiben folgenlos.
Wenn ein Lastenrad mit 1.500 Watt sicherer und umweltfreundlicher ist als ein 2-Tonnen-SUV, muss man sich fragen: Warum verbieten wir das Lastenrad, während der SUV seine Emissionen ungestraft weiter produziert?
Die Antwort liegt weniger in der Physik als in Machtstrukturen, Marktlogik und fehlendem politischen Willen. Solange diese Interessen über dem Gemeinwohl stehen, bleibt die Verkehrswende ein Lippenbekenntnis. Und das Pedelec, einst Hoffnungsträger einer klimafreundlichen Mobilität, droht zu einer Spielwiese für Sportgeräte und Profitinteressen zu verkommen.
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