Über „Gesellschaft in Bewegung“ haben wir im Vorfeld des Erscheinungstermins des Buches berichtet. Vergangene Woche war es soweit und das Werk von Thalia Verkade und Marco te Brömmelstroet wurde als überarbeitete Version auch auf Deutsch verfügbar. Die Erstveröffentlichung auf Niederländisch, der Heimat der beiden Autoren, war bereits in 2020. An Aktualität hat das Buch dabei nichts verloren, eher noch umso mehr hinzugewonnen. Angesichts der Krisen um Klima und Krieg besinnen sich immer mehr Menschen darauf, wie sich eine Mobilität der Zukunft aussehen könnte. Geht es darum in diesem Buch? Wir haben es herausgefunden.
„Gesellschaft in Bewegung“ – ein Weg zur Erkenntnis
Das Vorwort von Harald Welzer, dem international anerkannten Soziologen, Sozialpsychologen und Publizisten, zeichnet das Auto als emotionales Wunschobjekt ohne jede Kulturgeschichte. Trotzdem hat es die Lebensgeschichte der Menschen so sehr bestimmt, wie keine zweite Erfindung der Moderne. Dabei wird die Berechtigung des Autos überhaupt nicht wissenschaftlich hinterfragt und auf das „Existenzrecht des Stauproblems“ hingewiesen.
Spätestens jetzt ist man neugierig.
Den Einstieg ins Buch bildet das Kapitel „Wem gehört die Straße?“, wo Thalia Verkade ziemlich unbedarft in das Thema hineinrutscht. Der Blick auf die aktuelle Verkehrssituation erfolgt aus dem Auto im täglich, nervenden Stau heraus und beginnt mit einer scheinbar augenscheinlichen Lösung durch mehr Fokus auf den Radverkehr.
Was läge näher, sich hier an den „Fietsprofessor“ Marco te Brömmelstroet zu wenden? Dessen erste Antworten lassen sie zwar verdutzt zurück, wecken aber die Neugier in der Art, dass sie immer mehr „richtige Fragen“ stellt, um dem Problem damit weiter auf die Spur zu kommen.
Dass Verkehrsplaner ihre Systeme anhand Zahlen und Geometrien auslegen, kann man womöglich noch gut nachvollziehen, aber dass auch der Entscheid für den Bau von Parkplätzen an Schulen anstatt Spielplätzen, Fahrradgaragen oder einem Fußballfeld diesem Schema folgt, erscheint zumindest unlogisch.
Professor Dr. Marco te Brömmelstroet setzt sich selbst über das gesamte Buch hinweg für eine bessere Lösung in seinem neuen Wohnviertel ein, im konkreten Fall um eine sogenannte Kiss-and-ride-Zone zu verhindern, die viele Elterntaxis auf den Plan gebracht hätte.
Durch Treffen mit verschiedenen Experten erfährt die Autorin immer mehr über die Mechanismen der Verkehrsplanung. Sie sieht, dass man in den Ministerien und in Fachkreisen die Mobilität der Menschen auch über die sog. Reisezeitkonstante erfasst, deren Auswirkungen je nach Verkehrsmittel immer weiter wachsen. Dabei gibt es nur Entfernungsgewinne, keine Reisezeitgewinne, wie sie erfährt.
Was in der Rechnung fehlt, sind die Menschen. Vielmehr werden die Städte vermenschlicht, deren „Verkehrsadern“ verstopfen, wobei das „grüne Herz“ eines Landes immer mehr mit Parkplätzen und Straßen versiegelt wird. Sie erfährt viel über die Entstehung der modernen Städte, die Probleme durch den Verkehr und trifft eine eigene Entscheidung.
Das zweite Kapitel „Vorsicht: Spielende Kinder“ geht der Frage nach, wie man dem Verkehr seitens der Planer begegnet und zeigt auch die Wandlung der Städte über die Zeit auf.
Dass die Autos als Massenphänomen zuerst Amerika eroberten und sich dies dann auch in anderen Ländern, darunter auch europäische, wiederholen sollte, verwundert einen nicht wirklich. Aber es gab auch schon früh Widerstand und genügend Menschen, die historisch gewachsene Orte damit bewahrten.
Was erst jetzt wieder aufkommt, ist das Aufbäumen gegen das Selbstverständnis, dass schwächere Teilnehmer im Verkehr, also Kinder, Fußgänger oder auch Radfahrer, sich gefälligst vor den Stärkeren (Autos, LKW, etc.) in Acht zu nehmen haben.
Umgekehrt wäre es viel besser.
In „Die Geschichte, die nie erzählt wird“ geht es daher um die Opfer. Marco te Brömmelstroet öffnet sich und erzählt trotz der Gefahr, dass er als Aktivist und von Kindheit an als traumatisiert bezeichnet wird, die Geschichte eines Unfalls in seiner Vergangenheit.
Hier kommt man dem eigentlichen Kern schon etwas näher, denn viele Schicksale hängen mit Unfällen im Verkehr zusammen und betreffen die Menschen direkt. Es geht also um Menschen, nur auf die denkbar grausamste Weise.
In der Berichterstattung der Medien werden die Schicksale zumeist nicht offen angesprochen. Hier heißt es, „ein Radfahrer wurde von einem Auto erfasst“, oder „ein Fahrzeug hat die Kontrolle verloren“. Diese Umschreibungen sollen zwar die Opfer schützen, abstrahieren die Unfälle aber auch zu Vorgängen, die sich auf die Maschine und deren Fehler beschränkt.
Wo kommen wir hin, wenn wir so weiter machen? Im Kapitel „Auf Autopilot“ geht Thalia Verkade genau dieser Frage nach. Die Journalistin erfährt, dass starre Regeln und Standards, die von Instituten festgelegt werden, dafür verantwortlich sind, wie Verkehrswege funktionieren und angelegt werden. Allerdings sind es keine Vorschriften und müssten demnach nicht befolgt werden.
Man könnte also etwas ändern, hält allerdings oft am Status quo fest und arbeitet lieber an einem in der existenziellen Staufrage wirkungslosen Austausch des Antriebs (z.B. zum Elektroantrieb) oder noch mehr Technologie, deren unterwürfiger Diener die Menschen dann sein sollen.
Die Autoren füllen dieses Bild mit aktuellen Beispielen aus, auch mit Zukunftsvisionen, die von der Werbemaschinerie der Autofirmen gezeichnet werden. Alle erfordern Investitionen in Milliardenhöhe und sind dabei kaum für alle Nationen zu stemmen.
Muss man nicht die Sichtweise ändern?
Worum geht es eigentlich? Es geht um Menschen, „Mit Menschen verkehren“. Die Autoren zeigen auf, wie verkehrsberuhigte Wohngebiete in Form von Blumenkohlköpfen designt wurden oder auch, wie die „Tempo-30-Zone“ entstand, übrigens eine deutsche Erfindung.
Moderne Beispiele werden angeführt, wie der Weg zur 15-Minuten-Stadt von Anne Hidalgo (Paris) oder die seit langem angestrebte „Vision Zero“. Letztere erfordert viel Technologie und Aufwand, um die Menschen vor dem „schwereren Verkehr“ zu schützen. Wieso eigentlich?
Überhaupt wird für eine kleine Gruppe unglaublich viel Aufwand betrieben, während die weitaus größere Gruppe unbeachtet bleibt. Will man das wirklich? Muss man dies nicht umkehren?
Thalia Verkade erfährt, was Mobilität wirklich ausmacht und ändert ihre Sichtweise auf die Dinge.
Ihr auch?
Das Buch endet mit einem wunderbaren Epilog von Ingwar Perowanowitsch, der gerade mit dem Fahrrad nach Baku unterwegs ist. Der Politikwissenschaftler und Autor zur Verkehrswende schließt das Buch mit einer hoffnungsvollen Einordnung ab, die einen angesichts der wachsenden Anzahl änderungsbereiter Bürger davon träumen lässt, dass „der öffentliche Raum wieder ein Abbild der Menschen wird, die dort wohnen“.
Wir jedenfalls geben die Hoffnung nicht auf.
Fazit
Das Buch „Gesellschaft in Bewegung“ ist ein Augenöffner in Zeiten, in denen es schwierig ist zu erkennen, wie man den öffentlichen Raum wieder den Menschen zu eigen machen kann. Ob Verkehrswende oder Klimakrise: Über einen Kulturkampf direkt gegen das Auto gelingt dies nicht, sondern nur indem man die Städte wieder auf Menschen ausrichtet und nicht auf den Autoverkehr. Beispiele gibt es genug. Jetzt geht es ans umsetzen.
Kaufempfehlung!
Disclaimer: Das Buch „Gesellschaft in Bewegung“ von Thalia Verkade und Marco te Brömmelstroet wurde uns vom Marmota Verlag und in Zusammenarbeit mit Philipp Reiff von 138 Alternatives für die Rezension zur Verfügung gestellt. Auf unsere Meinung hatte dies keinen Einfluss.