Zehn Jahre nach der Fertigstellung des Berliner Mauerwegs erfüllt sich Rad-Fan Gunnar Fehlau einen Traum und befährt mit zwei Freunden den 160 Kilometer langen Rundkurs, der einen Teil der innerdeutschen Geschichte symbolisiert.
Für eine Strecke, die andere in mehreren Tagesetappen absolvieren, nimmt sich Fehlau ein Wochenende Zeit. Dabei trotzt er anfänglich widrigen Bedingungen wie Kälte, Schnee und Eis und sammelt unvergessliche Eindrücke in der Hauptstadt – auch weil ihm im Januar kaum Touristen auf seiner Tour begegnen.
Zeitgeschichte tief einatmen. An jeder Ecke, auf jedem Kilometer. Der Berliner Mauerweg steht sinnbildlich für die ehemalige Teilung Deutschlands. Auf alten Zollwegen führt die 160 Kilometer lange Strecke entlang der DDR-Grenzanlage vorbei an historischen Gebäuden und Mauerresten – so wird Geschichte erlebbar.
Doch kaum ein Tourist wagt sich – speziell im Winter – auf den geschichtsträchtigen Weg. Auch wir, Thomas, Kay und ich, ernten für unser Vorhaben, einen Fahrradausflug entlang des Mauerwegs mitten im Januar, nur Kopfschütteln und ungläubige Kommentare.
„Mit dem Rad, ick glaub, ick spinne!“, meint der Hotelier zu uns schon beim Einchecken. Wir haben uns ein Hotel am Wannsee gesucht. Der Plan: Wir umrunden Berlin auf dem Mauerweg und das binnen zweier Tage. Eine Strecke, für die andere bis zu zehn Tage kalkulieren, wollen wir also an einem Wochenende bei Schnee und Eis schaffen.
Am Ende des ersten Tages werden wir die Ikonen der Teilung und des Widerstandes gesehen haben und etwa 80 Kilometer geradelt sein. Dann nehmen wir die S-Bahn quer durch die Stadt zurück zum Hotel. Damit sparen wir uns unnötiges Übernachtungsgepäck.
Für den zweiten Tag haben wir uns den Rest der insgesamt 160 Kilometer langen Tour vorgenommen. Damit uns die Strecke leichter von der Hand geht, fahren wir mit elektronischer Unterstützung. „Smiles and Miles“, lautet intern das Motto.
Thomas und ich sitzen auf E-MTBs von Flyer namens „Uproc6“, Kay rollt auf einem „Lebowsk-e“ genannten Fatbike von Felt. Zumindest in Sachen Antrieb herrscht Chancengleichheit: Alle Bikes sind mit durchzugstarkem Bosch-Motor ausgestattet.
Ohne warme Kleidung geht nichts
Der Mauerweg ist gut beschildert, also konzentrieren wir uns ganz auf die Ausrüstung. Ich setze auf Hose und Jacke aus der „Minaki“-Serie von Vaude mit Primaloft-Futter, Kay sorgt sich besonders um seine Füße und greift zu wasserdichten „Fasterkatt“-Schuhen vom Winterspezialisten 45Nrth. Unser Gepäck, besonders die empfindliche Fotoausrüstung, verschwindet in wasserdichten Ortlieb-Rucksäcken und Rahmentaschen von Revelate Designs.
Zum Auftakt eisige Pop-Art
Gut gelaunt schwingen wir uns auf die E-Mountainbikes. Thomas macht sich mit der Motorsteuerung vertraut, während Kay die Fotoausrüstung samt Stativ auf dem Fatbike verstaut. Ich übernehme die Navigation. Die gestaltet sich auf den ersten Metern bis zum eigentlichen Mauerweg hakelig. Wir drehen ein paar Mal um und erklimmen schiebend einen Wall, bevor sich vor uns die berühmte Autobahnraststätte am ehemaligen Grenzübergang Dreilinden erhebt.
Seit 1973 war der riesige knallrote Pop-Art-Prachtbau markanter Anlaufpunkt für hungrige Transitfahrer und „gleichzeitig aber viel mehr: ein buntes Freiheitsversprechen des Westens gleich hinter der Grenze, ein knalliger Kontrapunkt zur baulichen Tristesse der DDR“, wie der Tagesspiegel einmal schrieb.
Treuer Begleiter des ersten Tages: Die Einsamkeit
Wir pedalieren – oder sollte ich pedelecen sagen? – südwärts über den menschenleeren Platz: Vom historischen Trubel und Touristen keine Spur. Wir sind allein mit einer Million Schneeflocken, die hier zu Grabe schweben. Denn noch liegt Schnee, doch der Wetterbericht hat für heute steigende Temperaturen angesagt. Je älter der Tag wird, desto wärmer wird er werden. Gestartet sind wir bei minus zwei Grad Celsius. Es ist aber feucht in der Luft und der Schnee beginnt bereits pappig zu werden.
Die „Jumbo Jim“-Reifen des Fatbikes wabern unbeeindruckt über den Schnee, meine „Hans Dampf“-Reifen von Schwalbe gleiten durch den Schnee bis auf den harten Asphalt wie ein Messer durch warme Butter. Am Ende der Zollstation klettern wir eine vereiste Treppe hinauf und biegen ostwärts ab auf die Königswegbrücke. Von nun an ist die Navigation denkbar einfach. Wir sind auf dem offiziellen Mauerweg und der ist bestens beschildert. Was bleibt, ist Einsamkeit.
Bei diesem Wetter geht nur vor die Tür, wer muss. Und wir radeln! Uns stehen noch gute fünf bis sechs Stunden Pedalieren, Pausieren und Fotografieren bevor. Wir schlagen ein paar Haken in Wohnvierteln und landen urplötzlich zwischen Feldern, Ponyhöfen und kleinen Wäldchen.
Der Mauerweg verläuft auf langen Geraden mit fast ausnahmslos rechtwinkligen Kurven. Im frischen Schnee nur wenige Fußspuren und keine Reifenabdrücke. Wir betreten Neuland. Es ist menschenleer.
Uns steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Keiner hätte diese Ruhe, dieses Nichts, so viel Natur in einer Millionenstadt erwartet. Es ist so verdammt „un-berlinisch“ hier. Keine marodierenden asiatischen Selfie-Stick-Horden, und auch vom pinken oder politischen Berlin ist nichts zu sehen.
Die Berliner Peripherie ist ländlich, schlimmstenfalls provinziell. Und das ist gut so! Denn so macht sie richtig Spaß. Anders als im Zentrum grüßt man sich freundlich. Verständlich, kommt ja nicht oft vor. Ist ja wenig los!
Mit alter Kamera auf alten Spuren
Wir widmen uns dem fotografischen Konzept dieser Fahrt: Wir wollen sie auf historischen Pfaden mit einer historischen Kamera für eine Reportage im Radkulturmagazin „fahrstil“ dokumentieren (Anmerkung der Redaktion: Die Reportage erschien im fahrstil-Sonderheft °Berlin im März 2016). Dazu hat Kay eine Praktica MTL mit 50 Millimeter Standardbrennweite dabei.
Mit so etwas haben auch die DDR-Grenzsoldaten fotografiert: Festbrennweite und analoge Fotografie im Kleinbildformat auf einem Film namens Ilford HP5 sind eine Zeitreise in meine Jugend. Damals, weit im Westen der Republik, war Berlin sehr weit weg. Bis zur Wende waren die vielfach kopierten Kassetten mit verbotenen Ärzte-Liedern meine einzige Schnittstelle zum Dicken B.
Wir pedalieren weiter, stets im „Eco-Modus“ des Motors. Bei aller Euphorie, die Pedelecs mit ihren Leistungspotenzialen verbreiten, ist es für den halbwegs trainierten Radler nach wie vor so, dass seine Beine den Akku deutlich überleben. Zwar macht der Turbo-Modus richtig Feuer, doch auf langen Touren zieht das Pedelec den Kürzeren. Wir kurbeln die Reichweite optimierend.
Kalt erwischt: Die Warum-Frage
Irgendwann auf jeder längeren Radtour kommt die Warum-Frage. Warum man macht das? Was soll das eigentlich? Auf der weiträumigen Umfahrung von Großziethen ereilt es mich: Der Wind nimmt zu, der Schnee ist schwer und zu einem nicht unerheblichen Teil flüssig in meine Schuhe gelaufen.
Kurz: Mir ist kalt, ich bin müde, ich habe Hunger und einen ordentlichen Kaffee hatte ich den ganzen Tag noch nicht – was mache ich hier eigentlich? Meine beiden Mitfahrer ahnen noch nichts von meiner erodierenden Motivation.
Ich komme ins Grübeln. Der Berliner Mauerweg ist das letzte Stück ehemaliger innerdeutscher Grenze, das ich noch nicht mit dem Fahrrad erkundet habe. Es hat sich einfach noch nicht ergeben. Auch die jährliche Einladung zur IBC-Forumstour, die den Mauerweg am letzten Sonntag im Jahr an einem Tag unter die Räder nimmt, hat mich bisher nicht zum Radeln nach Berlin locken können.
Der Mauerweg steht halt wie Ötztaler, Mont Ventoux und was weiß ich noch auf meiner bucket list der 777 Dinge, die ich noch vor meinem Ableben tun wollte. Also ein guter Grund, ihn zu fahren. Aber ein hinreichender, um das mitten im Winter zu tun? Ich bin durch!
Per U-Bahn zurück ins Leben
Und damit bin ich nicht allein! Thomas ist ziemlich alle und Kay fröstelt. Es ist vier Uhr nachmittags und die Sonne nimmt langsam Abschied. Gute Fahrfotos entstehen heute ohnehin nicht mehr. Das Handy holt uns zurück ins Jahr 2016: Mit ein paar Wischern ist unser Standort lokalisiert und die Heimreise per BVG organisiert.
Kaum eine Stunde später genießen wir die Annehmlichkeiten des Hotels mitsamt einem kühlen Bier vor einem sehr frühen, aber wohlverdienten Abendessen. Stimmung und Körpertemperatur steigen. Bleibt die Frage: Ziehen wir die verbliebenen 100 Kilometer morgen in einem Rutsch durch?
Wir entscheiden uns fürs Hotspot-Hopping: Die Glienicker Brücke erreichen wir noch bequem vom Hotel aus. In die Innenstadt mit Brandenburger Tor, Reichstag, Checkpoint Charlie und East Side Gallery shutteln wir mit dem Auto, vor Ort wird geradelt. Wie man das eben auf einer Städtereise so macht. Was bleibt, ist der unverrückbare Vorsatz, den Berliner Mauerradweg noch zu komplettieren.
Vielleicht im nächsten Winter – oder doch im Sommer?
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